Anfahrt am Samstag, 25.7.2015 mit der Bahn.

6x umsteigen auf der Herfahrt,  jedes Mal ganz knapp den Anschluss noch gekriegt. Auf der 4. Teilstrecke habe ich dann mein Käppi verloren. In Herbriggen das Hotel Bergfreund gleich gefunden, vielleicht 80 m vom Bahnhof entfernt. Sehr nett!

Unsere Seilschaft besteht außer mir aus Petra und Jochen, die ich zum ersten Mal beim Abendessen treffe.

… Ist der Stress erst einmal vorüber, wird man empfänglich für das Angenehme im Hier und Jetzt. Ich war beeindruckt, wie schön die Schweiz selbst aus der Perspektive des Bahnreisenden war. Das Gras erschien mir besonders grün, die Landschaft mit ihren hier noch mild geschwungenen Bergen überaus lieblich, die Häuser proper, und die Burgen trutzig, mit vielen rot-weißen Schweizer Fahnen, nicht nur auf den Gebäuden, sondern auch in riesiger Größe auf manchen Felsen und Wiesen – Vorboten des nahen Schweizer Nationalfeiertags. Alleine eine neue Reise zu unternehmen, bedeutet immer eine gewisse Anspannung, doch wenn die ersten Schritte gut geklappt haben, wachsen Zuversicht und Vorfreude und transformieren Nervosität und Sorge in eine besonders fruchtbare  Aufmerksamkeit, mit der man die neuen Eindrücke so aufnimmt, dass man sie lange erinnern kann. So ging es nun auch mir im weiteren Verlauf der Fahrt, entlang am sonnenglitzernden Thuner See, durch den ewig langen dunklen Lötschbergtunnel, einem weiterem Umstieg in Visp und dann weiter mit der Regionalbahn in das immer steiler und wilder werdende Mattertal. Eng wurde es und dunkel, erlaubte nur gelegentliche Blicke auf schroffe hohe Berge. Über verwegene Brücken ging es dann durchs  immer dunklere, von den steilen Hängen eng zusammengedrückte Tal. An gelegentlichen Ortschaften, kaum mehr als ein paar Häuser, wurde es etwas weiter und heller, und überall hielt der Zug.

So auch in Sankt Niklaus, einem kleinen Ort mit 2.400 Einwohnern, dessen vertikale Ausdehnung sagenhafte fast dreieinhalb Kilometer umspannt, wie ich später googelte. Vom niedrigsten Punkt im Ortsteil Kipfen auf 900 Metern bis zum Nadelhorn auf 4.327 Metern gehört alles dazu, welcher andere Ort kann derartiges schon bieten!  So gilt das Mattertal als das tiefste Tal im gesamten Alpenraum, weist es doch die größte Höhendifferenz zwischen dem tiefsten Punkt der Talsohle und dem höchsten Berg der Talumrandung auf. Und nicht nur das, von den 48 Viertausendern der Schweiz befinden sich 33 in der unmittelbaren Nachbarschaft dieses Tals, darunter der Gipfel des Monte Rosa und höchste Berg der Schweiz, die Dufourpitze mit 4.634 m Höhe. Doch dazu später. Jetzt waren diese hohen Gipfel noch schier unendlich weit entfernt. Ich konnte sie nicht einmal ahnen, spürte nur die Dunkelheit und Enge ihrer letzten Ausläufer, die hier nicht flach sind, sondern jäh ins steinige Bett der Matter hinabstürzen, um sich am anderen Ufer steil wieder hinaufzuschwingen.

Kurz nach Sankt Niklaus erreichten wir schließlich auch Herbriggen. Nach 5 Stunden und 7 Minuten Fahrzeit exakt um 18:44 Uhr. Nichts anderes als vollendete Pünktlichkeit hatte ich von der Schweizer Bahn erwartet. In wenigen Schritten erreichte ich das Hotel Bergfreund. Nun war ich doch ein bisschen aufgeregt. Wen würde ich dort treffen? Schließlich kannte ich von meiner Seilschaft niemanden und würde doch mit ihnen die nächsten Tage sehr eng zusammenleben. Waren sie fit, kannten sie sich bereits, wie würden sie mir, dem Fremden, begegnen? Zuerst einmal wurde ich vom Empfang ausgesprochen freundlich begrüßt, ich solle am besten gleich in den Speisesaal, das Abendessen wäre bereit. Das passte. Umziehen brauchte ich mich schließlich nicht, meinen einzigen Kleidersatz trug ich bereits am Leibe. …

 

Aufbruch um 7:45 Uhr. Gleich mit Steigeisen auf den Gletscher und die ersten 400 m ganz gemütlich hinauf bis in die Scharte zwischen Castor und Pollux. Dann steiler über etliche Spalten und zuletzt den Bergschrund. Am Schluss ausgesetzt über den Gipfelgrat (gerade 2 Fuß breit) und dazu ein ordentlicher Wind…

Ich bin froh als wir auf dem Gipfel sind, der diesmal komfortabel breit ist. Dort herrlicher Blick. Kurze Pause und auf leichterem da breitem Grat weiter bei weniger Wind. Ab da sehr entspannt auf griffigem Schnee und später weichem Firn hinab. Bereits um 13:00 sind wir wieder bei der Hütte, dem Rifugio Quintino Sella auf 3.585 m. Meine Höhenanpassung ist gefühlt viel besser als gestern. Wieder gönne ich mir einen Cappuccino und Kuchen. Viel Zeit zum Schauen auf dem weiten Hüttenplateau. Tolle Blicke ins weit entfernte Tal, von dem über einen Felsrücken ein Klettersteig zu uns hinaufkommt. Riesige Gletscher im Westen, im Osten weitere Gipfel unserer Tour.

Mit der Parrotspitze sehen wir bereits den ersten Gipfel des Monte Rosa.

… Nun erreichten wir das eigentliche Monte Rosa Plateau mit seinen ersten Gipfeln, Ludwigshöhe und Parrotspitze, die wir beide überschreiten wollten. Hier oben blies ein kräftiger Wind, und zum ersten Mal auf der Tour wurde mir richtig kalt. Bei der nächsten Pause, die wir im Lee hinter einem kleinen Felsblock machten, kramte ich Überhose und Hardshell aus meinem Rucksack.  Es dauerte eine Weile, bis ich die Überhose mit ihrem raffinierten Reißverschlusssystem verstanden und über meine Stiefel gezogen hatte. Ich brauchte sie dafür nicht auszuziehen. Jetzt hatte ich es warm, aber nur noch wenig Zeit zum Essen, die anderen wollten weiter. Nicht viel später erreichten wir die Senke vor der Signalkuppe. Jetzt schon zur Hütte? Das war verlockend. Ivo hielt an und fragte, ob wir denn wirklich heute noch zur Zumsteinspitze hinauf wollten, und eine Diskussion begann. Wir hatten bisher bereits einen großartigen Tag gehabt,  was könnte ihn noch toppen, als auf der Cappanna Margherita zu chillen, hoch über allen Gipfeln? Den Zumstein dann besser vielleicht erst morgen?

Ich fühlte eine listige Versuchung, dem Vorschlag zuzustimmen und auf die zusätzliche Anstrengung von weiteren hundert Höhenmetern zu verzichten, doch Jochen fand die richtigen Worte: „Wenn wir die Zumsteinspitze jetzt nicht begehen, wird es möglicherweise nie mehr passieren. Es wäre wirklich schade, denn schließlich ist dieser Berg einer den höchsten der Alpen!“ Der dritthöchste Gipfel ist die Zumsteinspitze, fast hundert Meter höher als das Matterhorn, das habe ich später nachgelesen. Und hier lag es, mit ein paar Schritten en passent an unserem Weg. Noch heute bin ich Jochen dankbar dafür, dass er uns aufrüttelte. Niemals wären wir am nächsten Tag noch hier heraufgekommen, jetzt war die Zeit! Wir stimmten zu,

 „Dann lasst uns wenigstens die Rucksäcke hier ablegen und ohne Gepäck den Aufstieg versuchen“, erbat sich Petra noch, dann gingen wir los. Ich war froh, dass sich mein innerer Schweinehund nicht durchgesetzt hatte, legte meinen Rucksack zu den anderen und folgte der Seilschaft, mit der wir nach überraschend kurzer Zeit den Gipfel erreichten. Vor uns türmte sich die gewaltige Felspyramide der Dufourspitze, deren Gipfel nur 70 Meter und damit nicht sehr viel höher ist als wir es waren, und trotzdem unerreichbar fern für uns. Das wäre eine eigene Tagestour, und keineswegs eine leichte, sagte Ivo. Viel Kletterei, das konnte man sehen. Nicht ohne Grund gibt sich der Hauptgipfel des Monte Rosa ohne Eispanzer und nackt, er  ist zu steil.

Tief unter uns liegt der spaltendurchfurchte Grenzgletscher, dahinter der mächtige Lyskamm und zur linken die Signalkuppe. Ganz oben, direkt auf dem Gipfel, erkennen wir die Capanna Margherita, unser heutiges Etappenziel.

Der Abstieg war leicht und schnell bewältigt, wir nahmen unsere Rucksäcke wieder auf und folgten der Spur zum letzten Aufstieg dieser Tour, ein mäßig steiles Eisfeld hinauf zur Hütte. Nun konnte nichts mehr schiefgehen.

Ein unglaubliches Hochgefühl erfasste mich. Ich hatte es geschafft! Während wir mit ruhigen Schritten vorwärts gingen, brachen sich meinen Emotionen Bahn. Niemand konnte mein Tränen sehen, Tränen des Glücks, die ich frei laufen ließ.

Ich war so dankbar, diesen erhabenen Moment alleine erleben zu dürfen. Hier, bereits vor dem Erreichen der Hütte, lag mein lang gehegtes Sehnsuchtsziel: Ich hatte diesen Berg, den ich so viele Jahre aus dem Fenster unseres Apartments am Lago Maggiore bewundert hatte, erreicht, war selbst ein Teil von ihm geworden und spürte, dass er mich als Besucher akzeptierte. Das Tor zum Monte Rosa hatte sich für mich geöffnet, die Brücke zum lang ersehnten Unbekannten geschlagen. Meine Tritte hinterließen im Schnee keine Spuren mehr, so leicht war ich geworden, und auch der Rucksack trug sich plötzlich wie von selbst. In meiner Mitte hatte sich ein Damm geöffnet und flutete mich mit Wärme und Glück, das durch den ganzen Körper strömte. Ich schämte mich meiner Tränen nicht, es waren Freudentränen, die meine Schneebrille beschlagen ließen …